Wo sind sie? Und wenn ja, wie viele?
Findet man den Kern einer Tier- oder Pflanzenpopulation stets im Zentrum ihres Verbreitungsgebiets, wie ein klassisches ökologisches Modell besagt? In den meisten Fällen ja, aber nicht immer. Glücklicherweise lassen sich die Ausnahmen von der Regel leicht vorhersagen, so die Ergebnisse eines internationalen Forschungsteams um den Konstanzer Ökologen Trevor Fristoe.
Wie verteilen sich die Individuen einer Art zahlenmäßig innerhalb ihres jeweiligen Verbreitungsgebiets, und wo ist ihre Dichte am höchsten? Die Antworten auf diese Fragen sind von zentraler Bedeutung für die Entwicklung evolutionärer und ökologischer Modelle. Sie bilden gleichzeitig eine Grundlage für die Erarbeitung wirksamer Artenschutzmaßnahmen und politischer Richtlinien. Ein klassisches Modell zur Beschreibung der Verbreitung von Arten – das „Abundant-Center“-Modell – findet aufgrund seiner Schlichtheit breite Anwendung in der Ökologie, ist aber gleichzeitig auch fachlicher Kritik ausgesetzt. In einem aktuellen Fachartikel in der Zeitschrift Ecography stellt ein internationales Forschungsteam um den Konstanzer Ökologen Trevor Fristoe das Modell nun gründlich auf den Prüfstand.
Zwei einfache Grundannahmen
Das klassische Modell basiert auf zwei leicht verständlichen Annahmen. Die erste besagt, dass die Umweltbedingungen die Häufigkeitsverteilung einer Art bestimmen: Einige Umgebungen sind für eine Art besonders günstig, was die Lebensbedingungen angeht, sodass dort viele Individuen dieser Art vorkommen. Andere Umgebungen sind hingegen weniger günstig. Die zweite Annahme besagt, dass die Umweltbedingungen zwischen nahe beieinanderliegenden Orten vergleichbar sein sollten. Im Umkehrschluss nimmt die Unterschiedlichkeit zwischen zwei Orten mit zunehmender Entfernung zueinander ebenfalls zu. „Unter Berücksichtigung dieser beiden Annahmen sollten die Arten im Zentrum ihres Verbreitungsgebiets am häufigsten vorkommen und zu den Rändern hin immer seltener werden“, fasst Trevor Fristoe das Modell zusammen. Fristoe ist Hauptautor des aktuellen Artikels und Ökologe und Evolutionsbiologe am Fachbereich Biologie der Universität Konstanz.
Obwohl dieses Modell seit vielen Jahrzehnten in der Ökologie und der Biogeographie Anwendung findet, ist es in jüngster Zeit ernstzunehmender Kritik ausgesetzt. Der Grund: Mit wachsendem Zugang zu großen Mengen an Daten über den Aufenthaltsort von Arten und ihre Populationen wurden immer mehr Arten identifiziert, die nicht in das Modell zu passen scheinen. „Einige neuere Studien haben den Wert des Modells insgesamt in Frage gestellt und legen nahe, dass Abundant-Center-Verteilungen in der Natur eher selten sind. Andere Autoren haben jedoch auf Probleme bei den in diesen Analysen verwendeten Methoden und Daten hingewiesen, sodass die Frage weiterhin offen war“, so Fristoe.
Gut, aber ausbaufähig
Um das Modell zu überprüfen, testeten Fristoe und seine Kollegen es anhand eines großen, hochwertigen Datensatzes über die Verbreitung von mehr als 400 Vogelarten aus der North American Breeding Bird Survey. „Wir wollten wissen, ob diese klassische Idee es wirklich verdient hat, verworfen zu werden. Wir haben sie daher einer sorgfältigen Bewertung unterzogen – anhand eines aussagekräftigen Datensatzes zu einer äußerst gut erfassten Tiergruppe“, erklärt Fristoe. Sie stellten fest, dass das klassische Modell den Kritikern zum Trotz einen sehr guten Ausgangspunkt für Vorhersagen über die Form der Verteilung von Arten liefert, da etwa zwei Drittel der Vogelarten aus ihrem Datensatz tatsächlich dem Abundant-Center-Muster folgten.
Dennoch folgte etwa ein Drittel der Arten nicht dem vorhergesagten Muster, und die Forschenden wollten mehr über diese Ausnahmen und die Umstände, die sie verursachen, erfahren. Ihre Analysen zeigten, dass das klassische Modell in Landschaften, in denen sich die Umwelt allmählich und gleichmäßig in alle Richtungen verändert und die Grundannahmen des Modells somit erfüllt sind, sehr gut funktioniert. Abweichungen treten dagegen vorhersagbar in komplexen Umgebungen auf, etwa bei Gebieten, die sich entlang von Küstenlinien oder Gebirgszügen erstrecken und dadurch abrupte Veränderungen des Klimas oder des Lebensraums in eine oder mehrere Richtungen aufweisen. Für diese Fälle schlagen Fristoe und seine Kollegen eine erweiterte Version des klassischen Modells vor, die sie „Abundant-Core“ nennen.
Abgeschwächte Annahmen, bessere Ergebnisse
Das erweiterte Modell sagt nach wie vor voraus, dass es innerhalb des Verbreitungsgebiets einer Art einen Bereich mit der größten Individuendichte gibt – den Kern –, von dem aus die Häufigkeit zum Rand hin abnimmt, bis die Art überhaupt nicht mehr vorkommt. Anders als beim klassischen Modell muss sich dieser Kern jedoch nicht unbedingt im Zentrum des Verbreitungsgebiets befinden.
Beim Testen des erweiterten Modells anhand der Vogeldaten stellten Fristoe und seine KollegInnen fest, dass fast 90 Prozent der Vogelarten dem vorgeschlagenen Abundant-Core-Muster folgen. In vielen der Fälle, in denen die höchste Individuendichte einer Art nicht in der Mitte ihres Verbreitungsgebiets zu finden ist, ermöglicht das erweiterte Modell die Vorhersage, wo im Verbreitungsgebiet dieses Maximum (der Kern) stattdessen liegt. „Das ist eine deutliche Verbesserung gegenüber dem ohnehin schon guten klassischen Modell und zeigt, dass unsere Erweiterung eine flexiblere Anwendung der Grundidee des Modells ermöglicht, selbst auf solche Landschaften, bei denen das Original an seine Grenzen stößt“, schlussfolgert Fristoe und ergänzt: „Großflächige ökologische und evolutionäre Prozesse wirken sich auf allen Ebenen – von lokalen Gemeinschaften bis hin zu globalen Biodiversitätsmustern – aus. Unsere Ergebnisse werden dazu beitragen, sie besser zu erforschen und zu verstehen.“
Faktenübersicht:
- Originalpublikation: Trevor S Fristoe, Bruno Vilela, James H Brown, and Carlos A Botero (2022) Abundant-core thinking clarifies exceptions to the abundant-center distribution pattern. Ecography; DOI: https://doi.org/10.1111/ecog.06365
- Internationales Forschungsteam erweitert klassisches Modell zur Verteilung der Individuendichte von Arten innerhalb ihres Verbreitungsgebiets, um dessen Anwendung auf ein breiteres Spektrum biogeografischer Bedingungen zu ermöglichen.
- Erstautor Trevor Fristoe ist Ökologe und Evolutionsbiologe am Fachbereich Biologie der Universität Konstanz.
- Die Studie basiert auf Daten aus der North American Breeding Bird Survey
- Open Science: Der Artikel in Ecography ist frei zugänglich; Links zu den Daten aus ebenfalls öffentlich zugänglichen Quellen und das für die Analysen verwendete Skript können auf DRYAD beziehungsweise zenodo heruntergeladen werden.