Wie Seepferdchen seit 25 Millionen Jahren die Weltmeere erobern
Eine Forschungskooperation zwischen der Universität Konstanz und Teams aus China untersuchte mit dem bislang größten Genom-Datensatz von Seepferdchen die Bedeutung von Strömungen für deren Evolution und Verbreitung
Seepferdchen sind ausgesprochen schlechte Schwimmer. Umso erstaunlicher ist, dass sie in allen Weltmeeren zu Hause sind. Eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern hat auf der Grundlage von fast 360 Seepferdchen-Genomen untersucht, wie sich diese besonderen Fische weltweit so erfolgreich ausbreiten konnten. Mithilfe eines daraus erstellten Stammbaums von 21 Arten konnte sie die Verbreitungswege der Seepferdchen über die Weltmeere rekonstruieren und nachvollziehen, wo und wann neue Arten entstanden sind. Der internationalen Forschungskooperation mit Beteiligung der Arbeitsgruppe des Evolutionsbiologen Prof. Dr. Axel Meyer von der Universität Konstanz und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus China und Singapur gelang es, mit dem bislang größten Datensatz zu Seepferdchen-Genomen auch Faktoren zu identifizieren, die den entwicklungsbiologischen Erfolg der Seepferdchen ausmachen: schnelle Anpassungsfähigkeit und große genetische Variabilität. Die Ergebnisse wurden am 17. Februar 2021 in Nature Communications veröffentlicht.
Seepferdchenarten der Gattung Hippocampus entstanden vor zirka 25 Millionen Jahren im Indopazifik aus den Seenadeln, ihren nächsten Verwandten. Während diese zumeist noch relative gut schwimmen können, haben Seepferdchen sowohl die Bauch- wie auch die Schwanzflossen verloren und stattdessen einen Greifschwanz ausgebildet, mit dem sie sich zum Beispiel an Seegras oder Korallen festhalten. Sie haben sich früh in zwei Hauptgruppen aufgeteilt. „Eine Gruppe ist mehr oder weniger vor Ort geblieben, während die andere die Welt erobert hat“, beschreibt es Dr. Ralf Schneider, inzwischen Postdoktorand am Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel, der als Mitarbeiter des Lehrstuhls von Axel Meyer an der Studie beteiligt war. In der Heimatregion im Indopazifik konnten sich die vor Ort gebliebenen Arten aufgrund einer speziellen Insellandschaft diversifizieren, während die anderen ihren Weg nach Afrika, Europa und Amerika nahmen und sich schließlich im Pazifik ausgebreiteten.
Auf Flößen die Meere erobern
Die besonders große Datenmenge, welche für diese Studie gesammelt wurde, erlaubte es dem Forschungsteam, einen besonders zuverlässigen Seepferdchen-Stammbaum zu erstellen, wodurch die Verwandtschaftsverhältnisse ermittelt wurden und die Ausbreitungswege der Seepferdchen über die ganze Welt nachvollzogen werden konnten. Der Evolutionsbiologe Schneider: „Vergleicht man die Verwandtschaftsverhältnisse mit den Meeresströmungen, erkennt man, dass Seepferdchen durch diese Strömungen quer durch die Weltmeere gespült wurden.“ Werden sie zum Beispiel durch Stürme ins offene Meer getragen, halten sie sich mit ihrem Greifschwanz an allem fest, was sie finden können, wie zum Beispiel abgerissene Algen oder Baumstämme. Hier können die Tiere lange überleben. Die Strömungen tragen diese „Flöße“ oft hunderte Kilometer über das Meer, bevor sie irgendwo angespült werden, die Seepferdchen absteigen und ein neues Zuhause gefunden haben.
Da es Seepferdchen bereits seit 25 Millionen Jahre gibt, war es wichtig, nicht nur die heutigen Strömungsverhältnisse und Meereskorridore zu berücksichtigen, da sich diese durch Verschiebungen der Erdplatten stetig verändern. So erstreckte sich vor zirka 15 Millionen Jahren das Tethys-Meer ungefähr auf der Fläche des heutigen Mittelmeers. Im Westen gab es an der Stelle der Straße von Gibraltar eine Verbindung in den Atlantik, im Osten gab es im heutigen Bereich der Arabischen Halbinsel einen Ausgang zum Indischen Ozean.
Erdplattenverschiebungen ändern Strömungsdynamiken
Die Forscherinnen und Forscher konnten zum Beispiel untermauern, dass die Seepferdchen vom Arabischen Meer aus kommend die Tethys gerade noch kolonialisierten, bevor durch tektonische Veränderungen die Landplatten angehoben und dadurch das Meer im Osten verschlossen wurde. Mit der neuen Strömungsdynamik Richtung Atlantik gelangten die Seepferdchen über die westliche Öffnung nach Nordamerika. Ein paar Millionen Jahre später schloss sich auch die westliche Öffnung, und das gesamte Meer trocknete aus. Ralf Schneider: „Bisher war unklar, ob die Seepferdchen im Atlantik nicht alle von einer Stammeslinie abstammen, die vom Arabischen Meer aus nach Süden entlang der afrikanischen Ostküste und am Kap der Guten Hoffnung vorbei in den Südatlantik gewandert sind und auf der Höhe von Südamerika den Atlantik durchquerten. Wir haben herausgefunden, dass eine zweite Linie das auch gemacht hat, aber später.“
Weil das Forschungsteam von jedem Habitat um die 20 Tierexemplare zur Verfügung hatte, konnte auch die genetische Variation zwischen den Individuen bestimmt werden. Und da gilt generell: Je höher die Variation, desto größer die Population. „An der Art der Variation lässt sich rekonstruieren, wie alt diese ist. Anhand dessen lässt sich dann zurückrechnen, wann die Population wie groß war“, erklärt der Evolutionsbiologe. Gemäß dieser Modellierung war die Population, die über den Atlantik nach Nordamerika kam, sehr klein, was die These stützt, dass sie auf nur wenige Tiere zurückgeht, die sich an ihrem Floß festhaltend mit der Strömung dort ankamen. Mit denselben Daten konnte auch gezeigt werden, dass heute noch immer wieder Seepferdchen aus Afrika den Südatlantik durchqueren und ihr genetisches Material in Populationen Südamerikas einbringen.
Flexible und schnelle Anpassungsfähigkeit
Seepferdchen wurden nicht nur von den Strömungen über alle Ozeane verbreitet, sie waren auch erstaunlich gut im Besiedeln neuer Lebensräume. Seepferdchen haben stark modifizierte Genome und haben während ihrer Evolution viele Gene verloren, neue Gene sind entstanden oder wurden aus Genduplikationen hinzugewonnen. Das bedeutet: Im Vergleich zu anderen Fischen veränderten sich Seepferdchen sehr schnell. Vermutlich sind deshalb in verschieden Arten „Stacheln“ schnell und unabhängig voneinander evolviert, die in manchen Lebensräumen zur Abwehr von Fressfeinden dienen.
Tatsächlich wurden einige Gene identifiziert, die bei den Stachel-Arten besonders modifiziert sind, aber nicht bei allen Arten in gleicher Weise. Dass mehrfach schnell und unabhängig voneinander Stacheln selektiert wurden, obwohl die gleichen Genen bei der Entwicklung dieser Hautstacheln eine Rolle spielen, aber unterschiedliche Mutationen dafür verantwortlich waren, zeigt: Diese langsamen, sessilen, das heißt ortsgebundenen Seepferdchen können sich besonders schnell anpassen. Darin sieht das Forschungsteam einen der Hauptgründe, warum Seepferdchen so erfolgreich im Kolonisieren neuer Lebensräume waren.
Faktenübersicht:
- Originalpublikation: Genome sequences of 21 seahorse species shed light on global dispersal routes and suggest convergent developmental mechanisms of unusual bony spines. Qiang Lin, Dr Chunyan Li, Melisa Olave, Yali Hou, Geng Qin, Ralf Schneider, Zexia Gao, Xiaolong Tu, Xin Wang, Dr Furong Qi, Alexander Nater, Andreas Kautt, Shiming Wan, Yanhong Zhang, Yali Liu, Dr Huixian Zhang, Bo Zhang, Hao Zhang, Meng Qu, Shuaishuai Liu, Zeyu Chen, Jia Zhong, He Zhang, Lingfeng Meng, Kai Wang, Jianping Yin, Liangmin Huang, Byrappa Venkatesh, Axel Meyer, Xuemei Lu, Qiang Lin: Erscheint am 17. Februar 2021 in Nature Communications. Doi 0.1038/s41467-021-21379-x
- Eine Forschungskooperation mit Beteiligung der Universität Konstanz erforschte die Bedeutung von Strömungen für die Ausbreitung von Seepferdchen und fand konvergente besonders schnelle und unabhängige Evolution von „Hautstacheln“
- Mit dem bislang größten Datensatz zu fast 360 Seepferdchen-Genomen wurde ein Stammbaum von Seepferdchen-Arten erstellt und daran die Entstehung und Verbreitung neuer Arten in den letzten 25 Millionen Jahren rekonstruiert
- Erstautoren von der Universität Konstanz sind Dr. Melisa Olave und Dr. Ralf Schneider (jetzt Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel), weitere beteiligte Wissenschaftler aus Konstanz sind Dr. Alexander Nater und Dr. Andreas Kautt. Prof. Dr. Axel Meyer und Prof. Quiang Lin sind als korrespondierende Autoren verantwortlich für die Studie