Todesnachrichten überbringen

Der ERC Grant „Proof of Concept“ fördert ein Projekt der Konstanzer Kulturwissenschaftlerin Prof. Dr. Kirsten Mahlke, das einen Blended Learning-Kurs für Polizeischüler zur verantwortungsvollen Überbringung von Todesnachrichten entwickelt

Pro Jahr sind in Deutschland rund 34.000 Todesfälle zu verzeichnen, die auf eine unnatürliche Ursache zurückgehen: Unfälle, Gewaltverbrechen, Selbsttötungen. Fast immer bleiben Angehörige und Freunde zurück, denen die Todesnachricht überbracht werden muss. In Todesermittlungsverfahren ist dies ein Mandat der Polizei. In vielen Fällen sind die Überbringer überfordert. Die Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Kirsten Mahlke, Professorin für Kulturtheorie und kulturwissenschaftliche Methoden an der Universität Konstanz, entwickelt ein Lehrmodul, das Polizeibeamte in ihrer Ausbildung darin schulen wird, in solchen Situationen angemessen zu handeln. Sie wird für das Projekt „Death Notification with Responsibility“ durch die Initiative „Proof of Concept“ des European Research Council (ERC) gefördert. Das junge Förderinstrument unterstützt die gesellschaftliche und ökonomische Nutzung von Forschungsergebnissen, die zuvor durch den Europäischen Forschungsrat gefördert wurden. Das Projekt von Kirsten Mahlke wird für ein Jahr mit 147.000 Euro finanziert.

Äußerer Auslöser des neuen Forschungsprojektes von Kirsten Mahlke war ein Artikel im Wochenmagazin „Der Spiegel“, in dem von einem Klever Polizeibeamten berichtet wurde, der in Opferfamilien eine alarmierende Entdeckung machte: Rund 90 Prozent der Menschen, die einen ihnen nahestehenden Menschen durch einen unnatürlichen Tod verloren hatten, zeigten ein Jahr danach Trauma-Symptome – nach eigenen Angaben durch die Art, wie sie davon benachrichtigt worden waren. Zu den Folgen gehörten Arbeitsunfähigkeit und zerrüttete Familien. Kirsten Mahlke nahm Kontakt mit dem Polizeibeamten auf, der wiederum den Kontakt zur Fachhochschule für öffentliche Verwaltung und Polizei (FHöV) in Duisburg herstellte. Dort wie auch im baden-württembergischen Innenministerium in Stuttgart war die Resonanz groß.

Was die Folgen von unzureichenden Informationen über den Tod eines Angehörigen und die Verweigerung der Materialität des Todes sein können, hat Kirsten Mahlke in dem zuvor durch einen ERC Starting Grant geförderten Projekt „Narrative des Terrors und Verschwindens“ an einem Extrembeispiel erforscht. Sie untersuchte mit ihrem interdisziplinären Team, wie Menschen während der Militärdiktatur in Argentinien und danach damit umgingen, dass Angehörige und Freunde von heute auf morgen einfach weg waren. Mehr als 30.000 Menschen hat das Regime zwischen 1976 und 1983 „verschwinden lassen“, ohne dass je offiziell ihre Ermordung anerkannt worden wäre. Was geschieht, wenn die Materialität des Todes nicht greifbar ist, wenn die Körper nicht auffindbar sind, wenn kein Ort der Trauer festgelegt werden kann, wenn kein Bestattungsritual diese Toten kulturell integrieren kann? Und: Was geschieht, wenn Informationen rund um das Geschehen fehlen, beispielsweise zum Todeszeitpunkt, Begräbnisort oder zu den Verantwortlichen?

Die Studie „Ein Jahr danach“ der Initiative in Kleve brachte ans Licht: Bei der Überbringung von Todesnachrichten wird in vielen Fällen unzureichend oder falsch informiert, wird den Angehörigen der Zugang zu den Toten verwehrt oder werden zurückgelassene Gegenstände nicht zugestellt. „Es ist ein vernachlässigtes Thema, weil es nicht in das Berufsbild der Polizei passt. Die Polizei ist für den Tathergang und die Sicherung des Unfallortes zuständig und übersieht dabei den Schutz der Opferangehörigen. Softskills wie Kommunikation, Empathie oder die Begleitung an den Ort des Geschehens sollen die Seelsorger übernehmen“, erklärt Kirsten Mahlke die Ausgangslage. „Es ist entscheidend, ob Polizeibeamte die Situation bei der Überbringung der Todesnachricht bewältigen, indem sie mit den Informationen und der Vermittlung zu Bestattern, Klinik, Staatsanwälten zumindest ein kleines Stück Gewissheit liefern“, sagt die Wissenschaftlerin.

Nicht zuletzt auch für die Überbringer selbst. Tatsache ist, dass die Polizeibeamten auf diese emotional herausfordernde Aufgabe in den meisten Fällen nicht genügend vorbereitet sind. Das Lehrmodul hat das Ziel, Polizeischüler darin zu unterrichten, wie sich eine verantwortungsbewusste Kommunikation mit Hinterbliebenen und Institutionen gestaltet. Dazu arbeitet Kirsten Mahlke mit einem Philosophie-Dozenten der Polizeihochschule in Duisburg zusammen. „Alle Aspekte werden einbezogen, die notwendig sind, damit die Angehörigen nicht vergessen werden und die Gegenständlichkeit des Todes von den Angehörigen verarbeitet werden kann“, sagt die Kulturwissenschaftlerin. 

Kirsten Mahlkes Konzept sieht auch die Einbindung der historischen und der literaturwissenschaftlichen Perspektive vor – beispielsweise die Tatsache, dass unser historisch sehr junger Umgang mit dem Tod heute als privat markiert wird und in der Folge Angehörige aufgrund der Angst vor der Verletzung der Privatsphäre allein gelassen werden. Auch die in der Literaturwissenschaft lange Figurentradition des Todesboten oder des Todesengels sowie die reichhaltige Tradition der Erzählliteratur über Sterbeszenen und Todesmitteilungen werden eingesetzt, um die Bedeutung der Todesnachricht zu verstehen. Darüber hinaus wird sich die Wissenschaftlerin interkulturelle Kompetenz einholen. Gerade in diesem Punkt hat sie im Gespräch mit Polizisten große Unsicherheit festgestellt.

Das ERC-Förderinstrument „Proof of Concept“ finanziert Maßnahmen zur Weiterentwicklung von Forschungsergebnissen, die aus einem durch den Europäischen Forschungsrat geförderten Projekt resultieren, im Hinblick auf die Anwendungsreife, Kommerzialisierung oder Vermarktung. Alternativ zur ökonomischen Anwendung ist auch ein „social benefit“, die Aussicht auf einen gesellschaftlichen Mehrwert, vorgesehen. Sowohl an der Universität Konstanz als auch an der Polizeihochschule in Duisburg werden Praxisseminare angeboten. Bereits ab dem kommenden Sommersemester werden Konstanzer Studierende in einer Veranstaltung anhand von Gesprächen mit der Polizei, mit Klinikpersonal und dem Hospizverein Daten zur Praxis vor Ort erheben. Dabei lernen sie, wie Interviews geführt werden und wie ein elektronischer Kurs konzipiert wird.

Das Projekt ist nicht zuletzt dazu in der Lage, das Vertrauen in die Demokratie zu stärken: „Der Staat hat die Aufgabe, seine Bürger vor der Traumatisierung in Zusammenhang mit unnatürlichen Todesfällen zu schützen“, sagt Kirsten Mahlke.

Faktenübersicht:

  • Förderung durch das Förderinstrument „Proof of Concept“ des Europäischen Forschungsrates mit 147.000 Euro für den Zeitraum vom 1. Juni 2017 bis 30. Mai 2018
  • Dem Forschungsteam gehören Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Fächer Ethnologie und Literaturwissenschaft an.
  • Kooperationen mit dem polizeilichen Opferschutz Kleve, der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung und Polizei (FHöV) in Duisburg und dem Präsidium Technik, Logistik (Informationstechnik Referat 26), Polizei-Online.
  • Das Lehrmodul soll ab Juni 2018 zum Einsatz kommen.
  • Das Projekt „Narrative des Terrors und Verschwindens“ wurde von 2010 bis 2015 durch einen ERC Starting Independent Research Grant mit 1.200.000 Euro gefördert.
  • Die Professur von Kirsten Mahlke wurde vom Exzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“ der Universität Konstanz eingerichtet.