Strukturierte Elektronen mit chiraler Masse und Ladung
Konstanzer Physiker haben Elektronen in eine bisher unbekannte chirale Form gebracht, nämlich in chirale Spulen aus Masse und Ladung. Solche konstruierten Elementarteilchen könnten neue Forschungsmöglichkeiten in der Grundlagenphysik und der Elektronenmikroskopie eröffnen.
Haben Sie schon einmal die Handfläche Ihrer linken Hand auf den Rücken Ihrer rechten Hand gelegt, so dass alle Finger in die gleiche Richtung zeigen? Wenn ja, dann wird Ihnen aufgefallen sein, dass Ihr linker Daumen den rechten nicht berührt. Weder Rotationen noch Translationen noch eine Kombination aus beidem können eine linke Hand in eine rechte Hand verwandeln, oder umgekehrt. Dieses Merkmal wird als Chiralität bezeichnet.
Forschern der Universität Konstanz ist es nun gelungen, eine solche dreidimensionale Chiralität in die Wellenfunktion eines einzelnen Elektrons einzuprägen. Mit Hilfe von Laserlicht formten sie die Materiewelle des Elektrons in linkshändige oder rechtshändige Spulen aus Masse und Ladung. Solche künstlich erzeugten Elementarteilchen mit chiralen Geometrien, die unabhängig vom Spin sind, haben Auswirkungen auf die Grundlagenphysik, können aber auch für eine Reihe von Anwendungen nutzbar sein – zum Beispiel in der Quantenoptik, Teilchenphysik oder Elektronenmikroskopie. „Wir eröffnen neue Möglichkeiten für die Forschung, die bisher nicht in Betracht gezogen wurden“, sagt Peter Baum, Autor der Studie und Leiter der Forschungsgruppe Licht und Materie an der Universität Konstanz.
Chiralität von einzelnen Teilchen und größeren Zusammenstellungen
Chirale Objekte spielen fast überall in Natur und Technik eine entscheidende Rolle. Im Bereich der Elementarteilchen ist eines der wichtigsten chiralen Phänomene der Spin, der oft mit der Eigenrotation eines Teilchens verglichen wird, aber in Wirklichkeit eine rein quantenmechanische Eigenschaft ist. Ein Elektron zum Beispiel existiert aufgrund seines Spins oft in zwei möglichen Zuständen: einem rechtshändigen und einem linkshändigen. Viele wichtige Phänomene basieren auf diesem grundlegenden Aspekt der Quantenmechanik, zum Beispiel fast alle magnetischen Phänomene oder das Periodensystem der Elemente. Der Elektronenspin ist auch entscheidend für die Entwicklung zukunftsweisender Technologien wie Quantencomputer oder Supraleiter.
Es gibt jedoch auch zusammengesetzte chirale Körper, bei denen keiner der Bestandteile für sich genommen chiral ist. Unsere Hand zum Beispiel besteht aus Atomen ohne besondere Chiralität, aber sie ist dennoch ein chirales Objekt, wie wir weiter oben im Text gelernt haben. Das Gleiche gilt für viele Moleküle, in denen Chiralität auftritt, ohne dass die einzelnen Bestandteile an sich chiral sind. Ob ein Molekül links- oder rechtshändig ist, kann den Unterschied zwischen einem heilenden Medikament und einem schädlichen Stoff ausmachen – nur durch die unterschiedliche dreidimensionale Geometrie. In den Materialwissenschaften und in der Nanophotonik beeinflusst die Chiralität das Verhalten von magnetischen Materialien und Metamaterialien und führt zu Phänomenen wie topologischen Isolatoren oder chiralem Dichroismus. Eine gezielte Steuerung der Chiralität von zusammengesetzten Objekten, die aus achiralen Bestandteilen aufgebaut sind, bietet somit eine Vielzahl von Möglichkeiten, die Eigenschaften von Stoffen den Anforderungen der Anwendungen entsprechend einzustellen.
Wie man geometrische Chiralität in einem einzelnen Elektron erzeugt
Ist es möglich, ein einzelnes Elektron zu einem dreidimensionalen Objekt zu formen, das chiral bezüglich seiner Ladung und Masse ist? Mit anderen Worten: Kann in einem Elektron Chiralität erzeugt werden, ohne dass Spin nötig ist? Bislang wurden nur Elektronen auf spiralförmigen Bahnen bewegt oder Elektronenwirbelstrahlen erzeugt, bei denen die Phase der de Broglie-Welle bei konstanter Ladung und Masse um das Zentrum des Strahls rotiert. Im Gegensatz dazu hat das chirale Materiewellenobjekt, von dem die Konstanzer Physiker nun berichten, eine flache de Broglie-Welle, wohingegen die Erwartungswerte von Ladung und Masse in eine chirale Form gebracht wurden.
Zur Erzeugung dieses Objekts verwendeten die Physiker ein ultraschnelles Transmissions-Elektronenmikroskop, kombiniert mit Lasertechnologie. Zunächst generierten die Forscher Femtosekunden-Elektronenpulse. Durch die Wechselwirkung von präzise modulierten Laserwellen mit spiralförmigen elektrischen Feldern formten sie diese Pulse dann zu chiralen Mustern. Normalerweise treten Elektronen und Laserphotonen in einem solchen Experiment nicht in Wechselwirkung, da Energie und Impuls nicht konserviert werden können. Siliziumnitrid-Membranen, die für die Elektronen transparent sind, aber die Phase des Laserlichts verändern, erleichterten jedoch die Wechselwirkung im Experiment.
Die spiralförmigen elektrischen Felder in der Laserwelle beschleunigten oder verlangsamten das eintreffende Elektron je nach azimutaler Position um das Zentrum des Strahls. Später im Strahl erreichten die beschleunigten oder abgebremsten Elektronen schließlich die gleiche Position, und die Wellenfunktion wurde in eine chirale Spule aus Masse und Ladung umgewandelt. „Wir haben dann mit Hilfe der Attosekunden-Elektronenmikroskopie eine detaillierte tomografische Messung des Erwartungswerts des Elektrons durchgeführt, also der Aufenthaltswahrscheinlichkeit in Raum und Zeit“, erklärt Baum die Methode, mit der sie die erzeugten Formen messen konnten. Im Experiment traten wie erwartet rechts- oder linkshändige Einzel- oder Doppelspulen auf. Für diese rein geometrische Chiralität waren weder Spin noch Drehimpuls erforderlich.
Um zu untersuchen, ob und wie diese geometrische Chiralität bei Wechselwirkung mit anderen chiralen Materialien erhalten bleibt, setzten die Forscher Gold-Nanopartikel mit chiralen elektromagnetischen Feldern in ihr Elektronenmikroskop ein und nutzten die chiralen Elektronenspulen zur Messung der Streudynamik. Je nachdem, ob die Physiker ein linkshändiges Elektron auf ein rechtshändiges nanophotonisches Objekt schossen oder umgekehrt, zeigten die Ergebnisse konstruktive oder destruktive Rotationsinterferenzen. In gewisser Weise ist also die Chiralität immer erhalten geblieben.
Eine ganz neue Welt der Möglichkeiten
Die Möglichkeit, Elektronen zu chiralen Spulen mit Masse und Ladung zu formen, eröffnet neue Wege für die wissenschaftliche Forschung und für technologische Innovationen. Die nun erzeugten chiralen Elektronenstrahlen könnten beispielsweise Anwendungen finden für chirale elektronenoptische Pinzetten, als chirale Sensoren, in der Quantenelektronenmikroskopie oder für die Untersuchung und Erzeugung von Rotationsbewegungen in atomaren oder nanostrukturierten Materialien. Zudem scheinen sie auch für die Teilchenphysik und Quantenoptik relevant zu sein.
„Obwohl wir bisher nur das Elektron moduliert haben, eines der einfachsten Elementarteilchen, ist die Methode allgemein und auf fast alle Teilchen oder Materiewellen anwendbar. Welche anderen Elementarteilchen haben solche chiralen Formen, oder könnten sie haben, und gibt es mögliche kosmologische Folgen?“, fragt Baum. In einem nächsten Schritt wollen die Forscher ihre chiralen Elektronen in der Attosekunden-Elektronenbildgebung und in der Zwei-Elektronen-Mikroskopie einsetzen, um das komplizierte Wechselspiel zwischen chiralem Licht und chiralen Materiewellen für Anwendungen in zukünftigen Technologien weiter zu erforschen.
Faktenübersicht:
- Originalpublikation: Y. Fang, J. Kuttruff, D. Nabben, P. Baum (2024) Structured electrons with chiral mass and charge. Science; doi: 10.1126/science.adp9143
- Konstanzer Physiker haben einen Weg gefunden, Elektronen in eine bisher unbekannte geometrische Form der Chiralität zu bringen.
- Prof. Peter Baum leitet die Forschungsgruppe Licht und Materie am Fachbereich Physik der Universität Konstanz. Die Forschungsgruppe wurde kürzlich für die Entwicklung einer innovativen Attosekunden-Mikroskopietechnik mit dem Helmholtz-Preis für Grundlagenforschung ausgezeichnet.
- Fördermittel: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG; SFB 1432) und Dr. K. H. Eberle Stiftung