Soziologie als offene Wissenschaft
Konstanzer Soziologe und Vorsitzender der Akademie für Soziologie Prof. Dr. Thomas Hinz eröffnet 1. Kongress der Fachgesellschaft in München mit einem Statement zum gesellschaftspolitischen Beitrag der Soziologie
Die Soziologie könnte unter den Sozialwissenschaften eine Schlüsselrolle in der Erklärung und Prognose gesellschaftlicher Entwicklungen innehaben – aber dazu muss sie sich selbst ändern. So lautet das Statement des Konstanzer Soziologen Prof. Dr. Thomas Hinz, Vorsitzender der vor wenigen Monaten neu gegründeten Akademie für Soziologie, in seiner Eröffnungsrede auf dem 1. Kongress der Fachgesellschaft. Dieser findet vom 4. bis 6. April 2018 in München zum Thema „Wachsende Ungleichheit – gespaltene Gesellschaft?“ statt. Wichtige Debattenbeiträge über die Zukunft der Gesellschaft kommen laut Hinz derzeit aus anderen Fächern, etwa der Ökonomie. „Das ist eine paradoxe Situation“, sagt Thomas Hinz.
Der Akademie-Vorsitzende erklärt in seinem Vortrag, dass die Fähigkeit der Soziologie, belastbare Aussagen zur Entschlüsselung der Gesellschaft zu machen, über die Jahre immer besser geworden sei: „Es gibt mehr und bessere Daten, und auch die Methoden zur Analyse sind ausgefeilter. Viele Soziologen nutzen diese verbesserten Möglichkeiten jedoch nicht.“ Stattdessen habe sich in der Soziologie eine Breite an Themen, Konzepten und Methoden etabliert, die es für die Öffentlichkeit immer schwerer mache, die Ergebnisse von soziologischer Forschung zu verstehen und zu nutzen. Thomas Hinz: „Gerade Zeitdiagnosen, also das, was die Öffentlichkeit und Politik besonders interessiert, werden häufig auf der Basis von mehr oder weniger offenen Werturteilen aufgebaut. Solide empirische Analysen werden oft nur selektiv oder gar nicht berücksichtigt.“
Thomas Hinz benennt zwei zentrale Herausforderungen für die Zukunft des Fachs: „Die Soziologie muss anerkennen, dass wissenschaftlicher Fortschritt nur durch Kumulation entsteht. Erst wenn mehrere Studien mit unterschiedlichen Daten und Methoden zum selben Ergebnis kommen, haben wir eine belastbare und für die Gesellschaft bedeutsame Erkenntnis.“ Zum anderen müsse die Soziologie mehr denn je begreifen, welche Folgen datengetriebene Prozesse für die Entwicklung der Gesellschaft haben. Dabei gehe es um eine fundierte und nüchterne Abschätzung der Wirkung der Digitalisierung für das Leben der Menschen mit all ihren Chancen und Risiken. Es gehe aber auch um den sinnvollen Einsatz der neu entstehenden Datenmengen für die soziologische Forschung selbst.
Schließlich müsse die Soziologie ihre methodische Vorgehensweise selbst so transparent wie möglich machen. Thomas Hinz: „Die Soziologie muss eine offene Wissenschaft werden, um in Zukunft wieder glaubwürdig zu sein. Und genau dafür brauchen wir eine neue Akademie für Soziologie. Sie soll dazu beitragen, die Qualität der Forschung zu verbessern, und sie soll zugleich eine Brücke schlagen zwischen der Forschung und den berechtigten Erwartungen der Gesellschaft an die Aufklärung über sich selbst.“