Neuer Messfühler für Proteine entdeckt
MolekularbiologInnen von der Universität Konstanz und der ETH Zürich weisen nach, dass der Nascent Polypeptide-Associated Complex (NAC) neu synthetisierte Proteine sofort bei ihrer Entstehung im ribosomalen Tunnel spüren kann
Neue Forschungserkenntnisse des Konstanzer Sonderforschungsbereiches 969 „Chemical and Biological Principles of Cellular Proteostasis“, die am 31. Juli 2019 im Journal Molecular Cell veröffentlicht wurden, beweisen, dass der Nascent Polypeptide-Associated Complex (NAC) eine Sensorfunktion zur Identifizierung und Sortierung von neu synthetisierten Proteinen in der Zelle ausübt. Das Team um Prof. Dr. Elke Deuerling und Dr. Martin Gamerdinger vom Fachbereich Biologie der Universität Konstanz hat in enger Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Nenad Ban, einem führenden Experten für strukturelle Analysen von Ribosomen von der ETH Zürich, entdeckt, dass NAC die N-terminale Domäne seiner β-Untereinheit (N-βNAC) tief in den ribosomalen Tunnel inseriert, um dort neu synthetisierte Proteine zu erkennen und die heranwachsende Proteinkette ins Zytosol zu eskortieren. Unterstützt wurden sie dabei von Annalena Wallisch, Dr. Stefan Kreft, Nadine Sachs und Renate Schlömer sowie von Jun.-Prof. Dr. Florian Stengel und seiner Doktorandin Carolin Sailer, ebenfalls von der Universität Konstanz.
„Kein anderer uns bekannter Faktor tut das, weshalb wir einigermaßen überrascht von unseren Ergebnissen waren. Obwohl NAC bereits vor etwa 25 Jahren entdeckt wurde, begreifen wir gerade erst, wie wichtig dieser Komplex für die Zellfunktion ist. Unsere Studie beweist, dass NAC nicht nur als Chaperon sowohl am Ribosom als auch jenseits davon tätig ist, sondern dass der Komplex auch naszierende Polypeptid-Ketten tief im ribosomalen Tunnel erkennen kann“, erklärt Prof. Dr. Elke Deuerling, Hauptautorin der Studie und Professorin für Molekulare Mikrobiologie an der Universität Konstanz. “Es war uns zwar bereits bekannt, dass NAC vorübergehend mit translatierenden Ribosomen interagiert. Aber wir wussten bislang nicht, wie genau NAC mit dem Ribosom und mit naszierenden Substraten interagiert und so die Proteinfaltung und den Proteintransport zum Endoplasmatischen Retikulum (ER) reguliert, was absolut wichtig für die Lebensfähigkeit eines Organismus ist.“
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler führten biochemische, genetische und strukturelle Analysen am Modelsystem C. elegans durch, um genauer nachvollziehen zu können, wie NAC entstehende Polypeptid-Ketten im ribosomalen Tunnel identifiziert und sortiert. „Bislang war die Annahme, dass der früheste Kontakt zwischen Ribosom-assoziierten Faktoren wie Chaperonen, Enzymen und Transportproteinen am Ausgang des ribosomalen Tunnels stattfindet, wenn die naszierenden Polypeptid-Ketten austreten“, erklärt Dr. Martin Gamerdinger, Erstautor der Studie gemeinsam mit Kan Kobayashi (ehemals an der ETH Zürich tätig, jetzt Assistant Professor an der Universität Tokio). „Normalerweise haben die Ketten an diesem Punkt eine Länge von etwa 40 Aminosäuren. Wir haben herausgefunden, dass NAC bereits an naszierende Ketten mit einer Länge von nur 10 Aminosäuren oder kürzer bindet, und das im Tunnel selbst. Das macht NAC zum allerersten Faktor, der neu synthetisierte Proteine kontaktiert. Wir vermuten sogar, dass der Komplex spüren kann, wenn die ersten zwei Aminosäuren eines naszierenden Proteins mitaneinander verknüpft werden.“
Wie die Wissenschaftler mittels einer Kombination aus Kryo-Elektronenmikroskopie, Massenspektrometrie und biochemischen Analysen, die auch eine Reihe von positionsspezifischen Crosslink-Experimenten umfassten, zeigen konnten, führt NAC die positiv geladene und hochflexible N-terminale Domäne seiner β-Untereinheit (N-βNAC) in den ribosomalen Tunnel ein, der größtenteils mit negativ geladener ribosomaler RNA ausgekleidet ist. „Unsere Studie legt nahe, dass NAC nicht nur spüren kann, dass Translationsaktivität im Tunnel stattfindet, sondern dass der Komplex auch wahrnimmt, welche Art von Protein hergestellt wird. Das ist zumindest unsere derzeitige Hypothese“, so Elke Deuerling.
Sobald sie den ribosomalen Tunnel verlassen, können naszierende Proteine verschiedene Biogenese-Pfade einschlagen: Einige werden an weitere Faktoren weitergereicht, die sie zu ihren Bestimmungsorten anderswo in der Zelle bringen. Einige werden von Enzymen modifiziert, wieder andere benötigen die Unterstützung von Chaperonen, um ihre korrekte dreidimensionale Struktur zu erhalten. Martin Gamerdinger erklärt: „Wenn das, was wir in Bezug auf diesen Sensormechanismus annehmen, korrekt ist, dann haben wir mit NAC den wichtigsten Mechanismus zur Synthese und Sortierung von Proteinen vorliegen, der bisher bekannt ist. Er würde erklären, wie Zellen die komplexen Prozesse und Reaktionen steuern, die in Verbindung mit naszierenden Polypeptid-Ketten ablaufen, sobald sie den ribosomalen Tunnel verlassen.“ Dementsprechend wollen die Forscherinnen und Forscher als nächstes klären, ob die N-βNAC-Domäne tatsächlich den Charakter von naszierenden Proteinen im Tunnel bestimmen kann und wie sie diese dazu bringt, den korrekten Biogenese-Pfad einzuschlagen.
„Was wir außerdem herausgefunden haben, ist, dass NAC wie ein molekularer Filter funktioniert, der inaktive Ribosomen oder solche, die sich noch in den frühen Stadien der Translation befinden, davon abhält, mit der Translokationspore des Endoplasmatischen Retikulums zu interagieren, d.h. mit dem Komplex, der naszierende Polypeptide mit einer Signalsequenz ins Endoplasmatische Retikulum transportiert. Ungeregelte Interaktionen zwischen Ribosom und Translokon könnten einerseits dazu führen, dass die falschen Proteine ins Endoplasmatische Retikulum gelangen, andererseits hätten sie zur Konsequenz, dass Proteine fehlen, die eigentlich an anderer Stelle gebraucht werden“, so Elke Deuerling. „NAC reguliert somit verschiedenste Schritte der Protein-Biogenese und macht sie effizienter und spezifischer.“
Während die N-βNAC-Domäne für das Aufspüren und gegebenenfalls auch für die Sortierung von naszierenden Polypeptid-Ketten verantwortlich ist, interagiert eine weitere NAC-Domäne, N-αNAC, mit der β-Domäne und mit sich selbst, um die NAC-Aktivität am Ribosom zu regulieren. „Auch darüber wussten wir bislang nichts“, erklärt Martin Gamerdinger. „Wie sich jetzt gezeigt hat, würde NAC ohne die Intervention von N-αNAC zu stark ans Ribosom binden und somit essentielle Proteintranslationsprozesse stören, die dort stattfinden. Wir müssen erst noch besser verstehen, wie diese Autoinhibition bei NAC funktioniert, aber es scheint klar zu sein, dass N-αNAC die Bindung ans Ribosom herunterreguliert.“ In vivo-Experimente mit dem Tiermodell C. elegans haben deutlich gezeigt, dass Nematoden, die eine NAC-Variante ohne Autoinhibition und deshalb mit verstärkter Ribosomenbindung exprimieren, aufgrund reduzierter Proteinsynthese-Raten und gestörter Protein-Biogenese in ihrer Entwicklung stark eingeschränkt sind. Sie zeigten dabei klare Defekte, die auf eine ungesteuerte Ribosomenbindung von NAC zurückzuführen sind.
Faktenübersicht:
- Internationales Forschungsteam von der Universität Konstanz und der ETH Zürich weist einen Mechanismus zur Identifizierung von naszierenden Polypeptid-Ketten tief im ribosomalen Tunnel nach, der vom essentiellen eukaryontischen Chaperon NAC (Nascent Polypeptide-Associated Complex) angetrieben wird.
- Die Tunnel-Sensorfunktion von NAC ist für Organismen überlebenswichtig und auch für die Regulierung des Proteintransports zum Endoplasmatischen Retikulum von großer Bedeutung. Sie hat ferner weitreichende Auswirkungen für das generelle Verständnis der zellulären Protein-Biogenese.
- Originalpublikation: Martin Gamerdinger, Kan Kobayashi, Annalena Wallisch, Stefan G. Kreft, Carolin Sailer, Renate Schlömer, Nadine Sachs, Ahmad Jomaa, Florian Stengel, Nenad Ban, Elke Deuerling. Early scanning of nascent polypeptides inside the ribosomal tunnel by NAC. Molecular Cell. 31 July 2019. DOI: https://doi.org/10.1016/j.molcel.2019.06.030.
- Die Forschung an der Universität Konstanz wurde vom Sonderforschungsbereich 969 „Chemical and Biological Principles of Cellular Proteostasis“ unterstützt, der seit 2012 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wird.