Molekulare Archäologie
Konstanzer Evolutionsbiologen tragen zur Lösung des Rätsels um die evolutionsgeschichtlichen Beziehungen zwischen Wirbeltieren bei
Auf der Grundlage des bislang größten und informationsreichsten molekularen Datensatzes, der je analysiert wurde, konnte nun ein neuer stammesgeschichtlicher Baum für die „Kiefermäuler“ erstellt werden. Der neue Stammbaum löst das Rätsel mehrerer bedeutender Beziehungen, darunter die Identifizierung von Lungenfischen als nächste lebende Verwandte von Landwirbeltieren. Die Geschichte der Kiefermäuler ist Teil der menschlichen Geschichte: Auch die menschliche Spezies gehört zu den Landwirbeltieren, spezieller den Säugetieren, noch genauer den Primaten. In der Studie kam eine neue Verfahrensweise für die Entwicklung und Auswertung großer Datensätze zum Einsatz, die in Zukunft für neue Erkenntnisse zu den evolutionsgeschichtlichen Beziehungen anderer Organismengruppen genutzt werden kann. Die Studie ist ein großes Gemeinschaftsprojekt mehrerer Labore, an dem die Konstanzer Evolutionsbiologen Dr. Iker Irisarri und Prof. Dr. Axel Meyer maßgeblich beteiligt sind. Die Forschungsergebnisse sind in der Ausgabe vom 24. Juli 2017 der Fachzeitschrift Nature Ecology & Evolution erschienen.
Fische, Amphibien, Säugetiere, Schlangen, Schildkröten, Eidechsen, Krokodile und Vögel bilden Tiergruppen, zu denen jeweils tausende verschiedene Arten gehören und die äußerlich sehr verschieden sind. Diese Tiergruppen unterscheiden sich untereinander stark in Hinblick auf Artenreichtum, Lebenszyklus, Verhalten und viele andere Aspekte ihrer Biologie. Alle verbindet, dass sie eine Wirbelsäule und einen Kiefer haben. Seit ihrem Ursprung vor rund 470 Millionen Jahren haben sich die Kiefermäuler in außergewöhnlichem Umfang diversifiziert: Mehr als 68.000 beschriebene Arten, ohne die bereits ausgestorbenen Arten, gehören dazu. Sie haben dabei Anpassungen und Innovationen erfunden, die es ihren Vorfahren im Devon ermöglicht haben, das Wasser zu verlassen, das Festland sämtlicher Kontinente zu erobern und sogar das Fliegen mehr als einmal zu erfinden.
Die Evolution der Kiefermäuler ist auch Teil der menschlichen Geschichte, spezieller der Säugetiere, weswegen es auch ein Ziel dieser biologischen Forschung ist, zu verstehen, wie genau die Verwandtschaftsverhältnisse sind und wann der Ursprung der einzelnen evolutionären Linien war. Dies wurde ebenfalls in der vorliegenden Studie simuliert. Trotz jahrzehntelanger Forschung blieb es bisher schwierig, genau nachzuvollziehen, in welchen evolutionsgeschichtlichen Beziehungen einige dieser Tiergruppen zueinander stehen. Einen belastbaren Stammbaum zu berechnen, der diese evolutionären Beziehungen adäquat darzustellen vermag, ist Grundvoraussetzung für ein tieferes Verständnis der Evolution von Kiefermäulern. Die Geschichte der Kiefermäuler birgt erstaunliche Beispiele für sich wiederholende Evolution, so zum Beispiel bei der Ausbildung von Flugvermögen (bei Vögeln und Fledermäusen) und Echolotung (Fledermäuse und Wale). Derartige Erkenntnisse sind allerdings nur möglich, wenn die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Organismen richtig rekonstruiert werden.
Auf der Grundlage des bislang größten und informationsreichsten Datensatzes, der je analysiert wurde, konstruiert die Studie einen neuen stammesgeschichtlichen Baum für Kiefermäuler. Es kommen insgesamt 7.189 Gene von 100 Arten zum Einsatz, mit je fast einer Million Aminosäuren, die für die Rekonstruktion ihrer evolutionären Geschichte genutzt wurden. Rückschlüsse auf evolutionsgeschichtliche Beziehungen zu ziehen, könnte man auch als „molekulare Archäologie“ bezeichnen, da bei diesem Verfahren die Spuren, die die Evolution in der DNA des Genoms hinterlassen hat, ausgewertet werden, um Ereignisse zu rekonstruieren, die Millionen von Jahren zurückliegen.
Der neue Stammbaum der Kiefermäuler löst damit das Rätsel mehrerer bedeutender Beziehungen, die in den vergangenen Jahren kontrovers diskutiert wurden – darunter die Identifizierung von Lungenfischen als nächste lebende Verwandte von Landwirbeltieren, die nahe Verbindung von Schildkröten zu Krokodilen und Vögeln oder die Beziehungen zwischen verschiedenen Amphibiengruppen (Eidechsen, Frösche, Wühlen). Der stammesgeschichtliche Baum wurde mithilfe von Fossilien zeitlich kalibriert, was es ermöglicht, Diversifizierungsschübe mit größeren geologischen Ereignissen abzugleichen. Es wurde beispielsweise bislang angenommen, dass sich die zwei Hauptgruppen der Vögel und Säugetiere als Folge des Dinosauriersterbens vor 67 Millionen Jahren diversifizierten. Die Analyse hat allerdings ergeben, dass diese Hypothese nicht zutreffen kann, da beide Gruppen tatsächlich wesentlich älter sind.
Die Innovation dieser Studie liegt auch in den darin zum Einsatz kommenden neuen Verfahrensweisen für die Auswertung neuer, großer genomischer Gendatensätze. Diese analytische „Pipeline“ löst Probleme, die mit den neuen Genomdaten einhergehen, und wird zukünftig auch dazu benutzt werden, die evolutionären Beziehungen anderer Organismengruppen zu bestimmen.
Originalveröffentlichung:
Iker Irisarri, Denis Baurain, Henner Brinkmann, Frédéric Delsuc, Jean-Yves Sire, Alexander Kupfer, Jörn Petersen, Michael Jarek, Axel Meyer, Miguel Vences and Hervé Philippe: Phylotranscriptomic consolidation of the jawed vertebrate timetree, Nature Ecology & Evolution,
Erscheinungsdatum: 24. Juli 2017
dx.doi.org/10.1038/s41559-017-0240-5
Faktenübersicht:- Neben Dr. Iker Irisarri und Prof. Axel Meyer waren Prof. Miguel Vences von der Technischen Universität Braunschweig, Prof. Hervé Philippe vom französischen Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS) und verschiedene Forscher der Deutschen Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen GmbH (DSMZ) sowie des Naturkundemuseums Stuttgart und der Universitäten von Liège, Montpellier und Paris (Frankreich) beteiligt.
- Die Forschung von Dr. Iker Irisarri im Labor von Prof. Axel Meyer wurde mit Postdoktorandenstipendien von der Alexander von Humboldt-Stiftung und der European Molecular Biology Organization gefördert.
- Das Forschungsprojekt wurde darüber hinaus von der Universität Konstanz, der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), dem European Research Council (ERC) und der französischen Agence Nationale de la Recherche (ANR) finanziert.