Für gute Wissenschaft
Die Darstellung der Auswirkungen auf die Gesundheit des Menschen und die geschätzten Kosten, die der Belastung mit „umweltöstrogenen“ Substanzen zugeschrieben werden, sind unbegründet, argumentieren der Konstanzer Toxikologe Daniel Dietrich und der Epidemiologe Gregory G. Bond im Wissenschaftsjournal „Archives of Toxicology“
Eine Reihe von wirtschaftswissenschaftlich orientierten Veröffentlichungen aus den Jahren 2015 und 2016 beziffern die Krankheiten, die durch die Belastung aufgrund endokrin aktiver Substanzen (EAS), auch als „Umweltöstrogene“ bekannt, verursacht werden, und die damit verbundenen Kosten in den USA und der EU. Viele Experten vermuteten von Anfang an, dass die Berechnungen fehlerhaft und somit bedeutungslos für Entscheidungen im öffentlichen Gesundheitswesen seien. Diese umfassende Kritik an der Methodik, die für die Schätzung der Kosten Verwendung fand, wurde diesen Monat in der aktuellen Ausgabe des einflussreichen Peer-Review-Journal „Archives of Toxicology“ veröffentlicht.
Die kritische Einschätzung erscheint zu einem Zeitpunkt, zu dem die Aufsichtsbehörden auf beiden Seiten des Atlantiks mit unterschiedlichen Ansätzen an der Identifizierung und Regulierung von EAS arbeiten. Die Kritik an der wirtschaftswissenschaftlichen Analyse, gemeinsam verfasst von dem Epidemiologen Gregory G. Bond, Ph.D., Michigan (USA), und dem Toxikologen Prof. Daniel R. Dietrich, Ph.D., Universität Konstanz, bestätigt den Verdacht zahlreicher Mitglieder der Europäischen Kommission, von Wissenschaftlern aus den USA und Europa sowie Wissenschaftsjournalisten, die bereits früher öffentlich ihre Bedenken gegenüber der Stichhaltigkeit der Kostenschätzungen geäußert haben.
Bond und Dietrich schreiben von grundlegenden Fehlern in der verwendeten Methodik der wirtschaftswissenschaftlichen Paper. Zum Beispiel sei keine zeitgemäße Methodik eines systematischen Reviews der bestehenden Literatur verwendet worden, sei die Transparenz in der Darlegung, wie die Literatur durchsucht wurde und welche Studien für den Review ausgewählt wurden, mangelhaft, ebenso das Gleichgewicht und die Gewichtung unterschiedlicher Perspektiven durch selektiv ausgesuchte Mitglieder für das eingesetzte Review Panel. Auch beanstandeten die Autoren das Fehlen einer ernsthaften Auseinandersetzung mit den Stärken und Schwächen der einzelnen zugrunde liegenden Studien.
Gerade diese Fehler weisen, nach Überzeugung von Bond und Dietrich, bezüglich der Berichterstattung zu Kostenschätzungen in den Medien auf einen beunruhigenden Trend in der Forschung hin. Die beiden Autoren schreiben von einer Forschung, welche die Politik im Gesundheits- oder Umweltbereich beeinflussen soll. Sie zeigen sich bestürzt darüber, dass während ihrer langjährigen beruflichen Erfahrungen in Wirtschaft und Wissenschaft eine Lockerung der Standards in der wissenschaftlichen Berichterstattung stattgefunden habe.
Greg Bond: „Wir beobachteten eine beunruhigende Abkopplung der medialen Berichterstattung über geschätzte Folgekosten auf der einen Seite von den Einschätzungen von Wissenschaftlern zu möglichen Fehlern und Einschränkungen der Kalkulationen auf der anderen Seite. Aufgrund der Relevanz der Kostenschätzungen für die laufende Debatte in den USA und der EU über die besten Wege, EAS zu identifizieren und zu regulieren, sind wir zu dem Schluss gekommen, dass eine gründlichere Prüfung der Analyse und Grundannahmen angebracht ist.“
Dietrich sagt: „Ehrlich gesagt waren wir überrascht, dass sich nicht mehr Fachleute über die astronomischen Kostenschätzungen in diesen Berichten wunderten. Früher hätten die Medien und wissenschaftlichen Zeitschriften solch unglaublich aufgeblähte Daten eher hinterfragt und sich geweigert, darüber zu berichten. Erschreckenderweise ist es heutzutage normal geworden, solchen Daten zu glauben oder, noch schlimmer, Manuskripte anzunehmen und zu veröffentlichen, welche unbewiesene und unbelegte, aber gewünschte Ergebnisse beinhalten. Die darauf folgende breite Reaktion mag zwar für die Autoren und Nachrichtenagenturen vorteilhaft sein, aber sicherlich nicht für die öffentliche Gesundheit oder die Glaubwürdigkeit der Wissenschaften.“
Originalveröffentlichung:
Bond, G.G. & Dietrich, D.R. Human cost burden of exposure to endocrine disrupting chemicals. A critical review. Arch Toxicol (2017)
doi:10.1007/s00204-017-1985-y
http://link.springer.com/article/10.1007/s00204-017-1985-y