Das alte Rätsel um Vibrationen im Glas
Wie Gläser den Schall dämpfen: Forscher der Universität Konstanz lösen ein Rätsel der Physik – indem sie eine verworfene Theorie wiederentdecken
Manchmal ist das Wissen schon da – es wurde nur übersehen. Seit rund einem halben Jahrhundert rätseln PhysikerInnen über Vibrationen in Gläsern bei tiefen Temperaturen. Der Grund: Gläser tragen Schallwellen und Vibrationen anders weiter als andere Festkörper – sie „schwingen anders“. Nur warum? Und wie lässt sich die Ausbreitung von Schall in Gläsern korrekt berechnen? Die beiden Konstanzer Physiker Matthias Fuchs und Florian Vogel haben nun die Lösung gefunden – indem sie ein altes Modell, das vor rund 20 Jahren entstand und damals von der Fachwelt verworfen wurde, aufgriffen und neu ausarbeiteten. Ihre Neubetrachtung einer alten Theorie wurde nun in der Fachzeitschrift Journal Physical Review Letters (Band 130, Juni 2023) veröffentlicht.
Gedämpfte Vibrationen
Wenn man Schallwellen durch ein Glas sendet und ganz genau nachmisst, wird man eine gewisse Dämpfung der Schwingungen feststellen, die in anderen Festkörpern fehlt. Sie hat weitreichende Konsequenzen für die thermischen Eigenschaften von Gläsern wie z.B. Wärmeübertragung und Wärmekapazitäten. Der Effekt ist in der Physik wohlbekannt, nur gab es bislang kein theoretisches Modell, das ihn korrekt beschreibt – und den Rahmen für komplexere Berechnungen der Schallausbreitung in Gläsern bilden könnte.
Gläser sind ungeordnete Festkörper. Anders als bei kristallinen Festkörpern sind die Teilchen, aus denen Gläser bestehen, nicht regelmäßig angeordnet. Bei den meisten Festkörpern sitzen die Teilchen nahezu perfekt „in Reih und Glied“ – wie Bausteine, die in einem präzisen Raster angeordnet wurden. Wenn solche kristallinen Festkörper bei tiefen Temperaturen zum Schwingen gebracht werden, geben die Teilchen die Schwingung ungedämpft an ihre Nachbarn weiter. Die Schwingung wird in einer gleichförmigen Welle unvermindert weitergetragen, vergleichbar mit einer La-Ola-Welle im Stadion.
Nicht so bei Gläsern: Ihre Teilchen sitzen nicht in einem regelmäßigen Raster, sondern auf zufälligen Positionen ohne stringente Ordnung. Wenn hier nun die Welle einer Schwingung ankommt, dann wird sie nicht in einem gleichförmigen Muster weitergetragen. Stattdessen wird die Schwingung an den zufälligen Positionen, an denen die Teilchen sitzen, aufgenommen und in einem entsprechend zufälligen Muster weitergetragen. Der Effekt: Die einheitliche Welle wird dadurch gebrochen und zerstreut sich in mehrere kleinere Wellen. Dieser Zerstreuungseffekt verursacht die Dämpfung. Der Physiker Lord Rayleigh nutzte diesen Mechanismus der Streuung von Licht an Unregelmäßigkeiten in der Atmosphäre, um die blaue Farbe des Himmels zu erklären; deshalb wird dieser Effekt „Rayleigh-Dämpfung“ genannt.
Neuentdeckung eines verworfenen Modells
Vor rund 20 Jahren haben die Physiker Marc Mezard, Giorgio Parisi (Nobelpreis für Physik 2021), Anthony Zee und Kollegen diese Anomalien in Gläsern durch ein Modell von Schwingungen in zufälligen Positionen beschrieben – mit dem sogenannten „Euclidean random matrix approach“ (ERM). „Ein einfaches Modell, mit dem sie die Lösung eigentlich schon in der Hand hielten“, schildert Matthias Fuchs, Professor für Soft Condensed Matter Theory an der Universität Konstanz. Das Modell hatte jedoch noch einige Ungereimtheiten und wurde daher von der Fachwelt verworfen – und geriet in Vergessenheit.
Matthias Fuchs und sein Mitarbeiter Florian Vogel griffen nun das alte Modell wieder auf. Sie lösten die offenen Fragen, die die Fachwelt damals unzufrieden ließen, und untersuchten das überarbeitete Modell durch Betrachtung seiner Feynman-Diagramme. Diese nützlichen Grafiken wurden von Richard Feynman in der Quantenfeldtheorie eingeführt und offenbarten die Gesetzmäßigkeiten in den Mustern der gestreuten Wellen. Die Ergebnisse von Matthias Fuchs und Florian Vogel lieferten realgetreue Berechnungen der Schallausbreitung und des Dämpfungseffekts in Gläsern. „Mezard, Parisi und Zee lagen mit ihrem einsichtigen Modell richtig – harmonische Schwingungen in einem ungeordneten Arrangement erklären die Anomalien von Gläsern bei tiefen Temperaturen“, so Fuchs.
Mit dem neuentdeckten Modell ist die Geschichte um Vibrationen in Gläsern jedoch längst nicht abgeschlossen: „Für uns ist es der Einstieg: Wir haben jetzt das richtige Modell gefunden, mit dem wir nun weitere Berechnungen, besonders von quantenmechanischen Effekten, anstellen können“, gibt Matthias Fuchs einen Ausblick. „Good vibrations“ für die Forschung.
Faktenübersicht:
- Originalpublikation: Florian Vogel and Matthias Fuchs, Vibrational Phenomena in Glasses at Low Temperatures Captured by Field Theory of Disordered Harmonic Oscillators, Phys. Rev. Lett. 130, 236101 (2023).
DOI: https://doi.org/10.1103/PhysRevLett.130.236101
Link: https://journals.aps.org/prl/abstract/10.1103/PhysRevLett.130.236101 - Prof. Dr. Matthias Fuchs ist Professor für Soft Condensed Matter Theory an der Universität Konstanz.
- Florian Vogel ist Doktorand in der Arbeitsgruppe Soft Condensed Matter Theory an der Universität Konstanz
- Die Forschung wurde gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen des Sonderforschungsbereichs SFB 1432 „Fluctuations and Nonlinearities in Classical and Quantum Matter beyond Equilibrium“.