Wie in den ersten Millisekunden des Universums
Presseinformation Nr. 59 vom 9. Juni 2015
Konstanzer Physiker wiesen das Skalenverhalten des sogenannten Kibble-Zurek-Mechanismus nach
Das Universum in seinen ersten Millisekunden: Kurz nach dem Urknall dehnte sich das Universum in einem Zustand jenseits des thermodynamischen Gleichgewichts extrem schnell aus. Fluktuationen bei der Symmetriebrechung des sogenannten Higgsfeldes sollen dabei Auswirkungen auf die Masseverteilung des Universums gehabt haben. Eine Konstanzer Gruppe von Physikern um Dr. Peter Keim analysierte nun die Mechanismen dieser Strukturbildung bei Phasenübergängen von Materie außerhalb des thermodynamischen Gleichgewichts. Als Modellsystem nutzten sie hierfür „weiche Materie“, ein sogenanntes Kolloidsystem aus Teilchen, die in einer Flüssigkeit fein verteilt sind. Den Konstanzer Physikern gelang es dabei, erstmalig das algebraische Skalenverhalten nachzuweisen, welches der sogenannte Kibble-Zurek-Mechanismus vorhergesagt hatte. Ihre Forschungsergebnisse, die Analogien für kosmologische Fragestellungen, Quantenflüssigkeiten und weiche Materie aufzeigen, wurden nun im Wissenschaftsjournal Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) veröffentlicht.
„In der Thermodynamik sind alle Größen typischerweise nur im Gleichgewicht formuliert. Wir haben uns nun explizit Nicht-Gleichgewichts-Phasenübergänge angeschaut“, erläutert Peter Keim. Der Physiker interessierte sich dabei insbesondere für Effekte gemäß dem Kibble-Zurek-Mechanismus. Dieses physikalische Modell beschreibt die Entwicklung sogenannter topologischer Defekte in Systemen außerhalb des thermodynamischen Gleichgewichts bei einem Phasenübergang zweiter Ordnung. Der Kibble-Zurek-Mechanismus ist damit zugleich ein Modell für die Strukturbildung des Universums kurz nach dem Urknall bei der sogenannten spontanen Symmetriebrechung des Higgsfeldes. Eine besondere Aufmerksamkeit widmete Keim der Frage, wie bei dieser Strukturbildung die „Kommunikation“ zwischen weit entfernten Regionen abläuft. „Der maximale ‚Kommunikationsradius‘ ist hierbei durch den Einsteinschen Ereignishorizont gesetzt, bedingt durch die Endlichkeit der Lichtgeschwindigkeit“, erklärt Keim.
Als Modellsystem für seine Untersuchungen nutzte Peter Keim zweidimensionale Schichten von Kolloidteilchen. „Wir können den Urknall ja nicht im Labor nachmachen“, verdeutlicht Keim augenzwinkernd. Prämisse der Physik ist, dass die grundlegenden naturwissenschaftlichen Gesetzte universell, das heißt zu allen Zeiten und an allen Orten identisch sind. Somit lassen sich an Kolloidsystemen dieselben physikalischen Phänomene untersuchen, die der Kibble-Zurek-Mechanismus beschreibt und die vermutlich in den ersten Millisekunden nach dem Urknall auftraten. Kolloidsysteme haben gegenüber vielen anderen Systemen den Vorteil, dass sie sich aufgrund ihrer Größe von rund 5 Mikrometern (entspricht fünf Tausendsteln eines Millimeters) besser beobachten lassen.
Peter Keim und seine Arbeitsgruppe kühlten diese Kolloidsysteme mit unterschiedlichen Raten ab und beobachteten die auftretenden Phasenübergänge mittels Video-Mikroskopie in ununterbrochenen Messungen von bis zu 20 Tagen. Auf diese Weise konnten sie das Verhalten von Defekten und Domänen mit hoher zeitlicher und örtlicher Auflösung bestimmen, was in der Kosmologie sowie auf atomarer Ebene nur schwer möglich ist. Die Physiker konnten dabei erstmalig das algebraische Skalenverhalten gemäß dem Kibble-Zurek-Mechanismus nachweisen. Dieses Skalenverhältnis gibt unter anderem an, welche mittlere Größe die Domänen bei ihrer Abkühlung als Funktion der Kühlrate annehmen.
Originalveröffentlichung:
PNAS 2015 (112) p. 6925, doi:10.1073/pnas.1500763112
Siehe auch den Kommentar:
PNAS 2015 (112) p. 6780, doi:10.1073/pnas.1507098112