How does public opinion impact education policy?

Political scientists from Konstanz, Frankfurt and Cologne study the role public opinion plays in political decision-making processes involving education policy

Es ist eine weit verbreitete Meinung, dass politische Entscheidungen meist unter dem Einfluss der öffentlichen Meinung getroffen werden. Auch dann, wenn es bis zu ihrer nächsten Wahl noch lange hin ist, scheinen die politisch Entscheidenden sensibel auf kleinste Veränderungen in der öffentlichen Stimmung zu reagieren. Andererseits wird den in der Politik Aktiven ebenso häufig vorgeworfen, dass sie ihre Entscheidungen zu stark von den Interessen von einflussreichen Verbänden und Lobby-Gruppen abhängig machen oder dass sie ihr Handeln zu sehr an parteipolitischen Überlegungen statt dem Allgemeinwohl ausrichten.

Wie stark ist der Einfluss öffentlicher Meinung im Verhältnis zu Interessengruppen und Parteipolitik? Unter welchen Bedingungen hören politische Entscheidungsträger auf „Volkes Stimme“, wann sind Interessengruppen einflussreicher und wann entscheidet die Parteipolitik? 

Antworten auf diese Fragen gibt nun das Buch „A Loud but Noisy Signal“, das eben bei Cambridge University Press erschienen ist und aus der Feder dreier Autoren stammt: Marius R. Busemeyer, Sprecher des Exzellenzclusters „The Politics of Inequality“ an der Universität Konstanz, Julian L. Garritzmann von der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Erik Neimanns vom Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung. Die drei Politikwissenschaftler untersuchen darin den Einfluss der öffentlichen Meinung auf politische Entscheidungsprozesse bei der Umsetzung von Bildungsreformen in acht westeuropäischen Ländern. Die Buchpublikation fasst damit die Ergebnisse eines langjährigen Forschungsprojekts zum Thema öffentliche Meinung und Bildungspolitik zusammen.

Bildungspolitik: ein politisch umkämpftes Feld
Das Politikfeld Bildungspolitik ist in der öffentlichen Wahrnehmung häufig sehr präsent – und nicht selten politisch umstritten. Ein erster Schritt und wesentlicher Beitrag der Studie ist die umfassende und international vergleichende Erhebung der öffentlichen Meinung zu verschiedenen Themen der Bildungspolitik, etwa zur Finanzierung, zur Rolle der beruflichen im Verhältnis zur Hochschulbildung, zu Fragen der politischen Steuerung und zum Ausbau von frühkindlicher Erziehung. Die vergleichende Umfrage umfasste acht europäische Länder (neben Deutschland sind dies Schweden, Dänemark, Großbritannien, Irland, Frankreich, Spanien und Italien).

Im nächsten Schritt wird die Erfassung öffentlicher Meinung im Rahmen der Umfrage mit detaillierteren Fallstudien einzelner Reformprozesse in den beteiligten Ländern verbunden, um zu analysieren, inwiefern diese Entscheidungen durch die öffentliche Meinung geprägt werden. „Auf kaum einem anderen Feld werden politische Reformdiskussionen so stark in der Öffentlichkeit geführt wie in der Bildungspolitik“, sagt Marius Busemeyer. „In Deutschland, aber auch in vielen anderen Ländern gibt es hitzige Auseinandersetzungen darüber, wie Kinder, Heranwachsende und junge Erwachsene am besten lernen und was sie überhaupt lernen sollen. Da treffen die lautstark geäußerten Meinungen wichtiger Wählergruppen, insbesondere der Eltern, aber auch der Lehrerverbände und der Parteipolitiker aufeinander.“

„Laute“ und „leise“ politische Diskussionen
Ist Bildungspolitik nun also ein Politikfeld, in dem politische Entscheidungen „auf Zuruf“ getroffen werden – oder orientieren sich Gesetzesvorhaben doch eher an parteipolitischen Linien oder den Vorstellungen einflussreicher Interessengruppen? Die Befunde der Politikforscher zeigen, dass es bei dieser Frage stark davon abhängt, wie intensiv ein bildungspolitisches Thema bereits in der Öffentlichkeit diskutiert wird und wie umstritten dieses Thema tatsächlich ist.

Wenn ein Thema beispielweise bereits stark in der Öffentlichkeit diskutiert wird und die Einstellungen der Bevölkerung dazu sehr kohärent sind, dann ist sehr wahrscheinlich, dass die politischen Entscheidungsträger dieses „laute“ Signal der öffentlichen Meinung hören und entsprechend handeln, und zwar unabhängig von ihrer parteipolitischen Orientierung. In Deutschland beispielsweise gibt es seit Jahren eine hohe öffentliche Nachfrage nach weiterem Ausbau frühkindlicher Betreuungseinrichtungen. Entsprechend haben Regierungen unterschiedlicher parteipolitischer Couleur die Expansion dieses Bildungssektors vorangetrieben.

Im Gegensatz dazu, so die Forscher, stehen die „leisen“ Themen – also solche, die in der Öffentlichkeit wenig diskutiert werden. Hier ist der Einfluss von Expertengremien, Interessen- und Lobbygruppen besonders stark. Ein Beispiel hierfür ist der Bereich der Berufsbildungspolitik, der in Deutschland selten für Schlagzeilen sorgt. 

Unklare Signale aus der Bevölkerung
Besonders konfliktreich sind schließlich diejenigen Themen, die zwar „laut“, aber gleichzeitig politisch umstritten sind, da die Einstellungen, die aus der Bevölkerung zu hören sind, keine eindeutigen Signale an die Politik senden. In diesen Fällen spielt die Parteipolitik die entscheidende Rolle. Beispielsweise war die Einführung von teilintegrierten Sekundarschulen wie der Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg über Jahre hin politisch umstritten und von zahlreichen kontroversen Debatten, Protesten und Kritik begleitet. Das Thema stand sehr stark in der öffentlichen Aufmerksamkeit und war damit ein „lautes“. Die Politik ist in solchen Fällen gezwungen, das Thema auf die Agenda zu setzen, gleichzeitig gibt die öffentliche Meinung keine klare Richtung vor, so dass letztlich die parteipolitische Färbung der jeweiligen Regierungen entscheidet.

„Das Signal der öffentlichen Meinung aus der Bevölkerung muss nicht nur laut sein, damit die Politik es aufnimmt und politisch umsetzt“, erklärt Marius Busemeyer. „Es muss auch eine klare Richtung vorgeben. Wenn die Wahlbevölkerung sich selbst nicht einig ist, dann kann das Signal der öffentlichen Meinung im Rauschen untergehen. Und dann entscheidet die Parteipolitik.“

Wirksamkeit öffentlicher Meinung in der Schulpolitik
Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für den Einfluss der öffentlichen Meinung auf politische Prozesse, so die Studie, ist der Bereich der Schulpolitik. „So wie es bei Fußballweltmeisterschaften 80 Millionen Bundestrainer gibt, so gibt es in der Schulpolitik 80 Millionen Bildungsexperten“, sagt Busemeyer und nennt als Beispiel die Verkürzung der gymnasialen Oberstufe (G8-Reform). Diese Reform war in Deutschland in der Öffentlichkeit ähnlich umstritten wie die Einführung der Gemeinschaftsschule.

„Am Beispiel Nordrhein-Westfalens haben wir gesehen, wie politische Entscheidungsträger zunächst unter dem Druck von Wirtschaftsverbänden die Umstellung von G9 auf G8 forciert haben. Nachdem dann aber die Eltern öffentlich protestiert und Widerstand organisiert hatten – in Nordrhein-Westfalen sogar in Form eines Referendums –, hat die Politik sehr schnell auf den Druck der öffentlichen Meinung reagiert“, führt Busemeyer aus.

Faktenübersicht:

  • Aktuelle Publikation: Marius R. Busemeyer, Julian L. Garritzmann, Erik Neimanns (2020): A Loud but Noisy Signal? Public Opinion and Education Reform in Western Europe (Comparative Politics of Education). Cambridge University Press.
  • Prof. Dr. Marius R. Busemeyer ist Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Vergleichende Politische Ökonomie an der Universität Konstanz und Sprecher des Exzellenzclusters „The Politics of Inequality“. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Wohlfahrtsstaatenforschung, Bildungs- und Sozialpolitik, Theorien des institutionellen Wandels sowie der Digitalisierung.
  • Prof. Dr. Julian L. Garritzmann ist Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Bildungspolitik und Politische Sozialisationsforschung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er forscht zu Bildungspolitik im internationalen Vergleich, Wohlfahrtsstaaten, Sozialpolitik und öffentlicher Meinung.
  • Dr. Erik Neimanns ist Postdoktorand am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. In seiner Forschung konzentriert er sich auf Vergleichende Politische Ökonomie, Wohlfahrtsstaaten, Parteienwettbewerb und Öffentliche Meinung.
  • Das Forschungsprojekt wurde finanziert durch einen „Starting Grant“ des European Research Council (ERC).