Solidarität erzählen
Wie könnte das Narrativ einer „Gesellschaft, die zusammenhält“ aussehen? Ausgehend von der Annahme, dass die Positionierung von Einzelnen und Gruppen in der Gesellschaft nicht nur durch sozio-ökonomische Faktoren beeinflusst wird, sondern ebenso durch erzählerische Selbstbeschreibungen, sammelt das Wissenschaftstransferprojekt persönliche und kollektive Erzählungen, die von integrativen und desintegrativen Erfahrungen handeln. Das inhaltliche Augenmerk liegt dabei auf der sogenannten „Flüchtlingskrise“ 2015 / 16 und deren Bewältigung in Kommunen. Für eine innerdeutsche Vergleichsperspektive werden Erzählungen sowohl in Jena als auch in Konstanz erhoben. Darüber hinaus sensibilisiert der Einbezug von weiteren Erzählungen aus Straßburg für den Eigensinn politisch-administrativer Rahmenbedingungen und zivilgesellschaftlichen Engagements in transnationaler Perspektive. Die aufgezeichneten Erzählungen werden um Narrative der Wende- und Postwendezeit, Erzählungen von Diskriminierung und Engagement in Kooperation mit dem Berliner Teilinstitut ergänzt und in Auszügen auf einer Internetplattform und in weiteren Medien als Text- und Audiodokumente veröffentlicht.
Das Transferprojekt stützt sich auf eine enge Zusammenarbeit mit Praxispartner*innenInnen. Diese werden aktiv in die Projektplanung und Durchführung einbezogen und fungieren als Multiplikator*innen bei Veröffentlichung und Verbreitung der Projektergebnisse. Das Projekt will es Menschen über verschiedene Milieus, Ethnien und Altersgruppen hinweg niedrigschwellig ermöglichen, sich einzubringen und eigene Erfahrungen in einer übergreifenden Gemeinschaftserzählung mit zu artikulieren. Eine Rubrik des Internetauftritts, in der Wissenschaftler*innen des FGZ zu Wort kommen, wird den Erzählungen zur Seite gestellt, um wiederkehrende Themen aufzugreifen, narrative Muster zu identifizieren und essayistisch zu vertiefen.
Ziel des Projektes, das der im FGZ entwickelten Transferdimension „Austausch“ dient, ist es, die angelehnt an die qualitative Sozialforschung und Oral-History aufgezeichneten Erzählungen an eine breitere Öffentlichkeit (über Medien, Social Media, Erzählsalons) zu vermitteln und so ein exemplarisches Erzählwerk der Gesellschaft entstehen zu lassen. Das Projekt hat einen experimentellen Charakter (Welches Gesamtbild entsteht aus den Einzelerzählungen?). Und es ist gleichzeitig interventionistisch gedacht, als Gegenentwurf zu tendenziell polarisierenden Erzählmustern der Gegenwart und als Forum für den überregionalen, transnationalen Austausch zwischen Praxispartner*innen.
Nach Umbrüchen und Krisen wird in der Öffentlichkeit regelmäßig die Forderung laut, den Erzählungen der Beteiligten Resonanz zu verschaffen. Anerkennung und Erzählung hängen offenkundig zusammen, beide sollen solche divergierenden Erfahrungen und abweichenden Wahrnehmungen sichtbar machen, über die sich eine Gesellschaft verständigen muss, wenn sie ihren Zusammenhalt gewährleisten will.
Theorien des Kommunalen gehen davon aus, dass Zusammenhalt auf kommunaler Ebene eine besondere Qualität annehmen kann, wenn Bürger*innen sich aktiv um gemeinsame Angelegenheiten kümmern. Die „Flüchtlingskrise“ brachte neue Formen solcher Interaktionen hervor, an denen sowohl die Alteingesessenen als auch die Neuangekommenen teilhaben. Konflikthafte Formen sind hier gleichermaßen zu berücksichtigen wie solche der problemlösungsorientierten Kooperation.
Die Art und Weise, wie Umbrüche und krisenartige Ereignisse in das kollektive Gedächtnis eingehen werden, wird als Teil des öffentlichen Diskurses immer wieder neu verhandelt. Das Erzählen verstehen wir als wesentlichen Bestandteil dieses Prozesses. Es kann in den Kommunen dazu beitragen, neu entstandenen Interaktionsformen Stetigkeit zu verleihen, indem es sie nicht zuletzt für die Beteiligten selbst zur Darstellung bringt.
Das Transferprojekt verbindet ein erzähltheoretisches Interesse (Welchen Mustern folgt das Erzählen? Wie verhalten sich Erzählungen zur medialen Berichterstattung? Inwieweit entfaltet sich die integrative Wirkung des Erzählens als Faktor für gesellschaftlichen Zusammenhalt?) mit der Fragestellung, wie die Ereignisse im langen Sommer der Migration die Kommunen verändert haben und es weiterhin tun: Hat die „Flüchtlingskrise“ zu bleibenden Konflikten oder im Zuge der kooperativen Krisenbewältigung zu stärkerem Zusammenhalt geführt? Welche Praxen und Rahmenbedingungen in den Kommunen waren dabei ausschlaggebend?