Digitale Öffentlichkeiten und ambivalente Teilhabe
Aufmerksamkeit stellt seit dem 20. Jahrhundert ein Schlüsselkonzept dar, um das Entstehen von Öffentlichkeiten zu erklären und dies auch jenseits der Spezialdiskurse der Wissenschaft und des Journalismus. Im Kontext digitaler sozialer Medien wird zusehends auch Nicht-Aufmerksamkeit thematisiert und zu einem normativen Beteiligungsmodell erhoben. Was vor einigen Jahren noch auf digitale Protestpraktiken beschränkt war, findet sich nunmehr in der Breite: eine digitale Aufmerksamkeitsethik, die fordert, Inhalte nicht zu teilen und bestimmten Akteuren und Themen keine Bühne zu bieten. Öffentlichkeiten sind so verstanden das Ergebnis positiver und negativer Aufmerksamkeitsbeteiligung, und die Modulation kollektiver Aufmerksamkeit wird über einen journalistischen Berufsethos hinaus zu einer Handlungsmaxime einzelner Mediennutzer:innen verallgemeinert.
Das Forschungsprojekt geht in Fallstudien verschiedenen Aufrufen zum Aufmerksamkeitsentzug in digitalen sozialen Netzwerken nach. Dabei interessiert uns, wie diese Aufrufe begründet und verhandelt werden, mit welchen weiteren „dis-konnektiven“ Praktiken der Öffentlichkeitsregulation sie in Verbindung stehen und welches explizite und implizite Medienwissen sich darin ausgedrückt: etwa Wissen über algorithmische Prozesse, über affektive Strukturen von Öffentlichkeit und über die Rolle und Handlungsmacht verschiedener Nutzer*innen. In diesem Kontext tritt auch die Figur des gesellschaftlichen Zusammenhalts, bzw. seine Gefährdung durch Polarisierung und Spaltung, als Rechtfertigungshorizont auf, um Praktiken des Aufmerksamkeitsentzugs zu legitimieren oder zu delegitimieren.
Gegen Aufrufe zum Aufmerksamkeitsentzug in sozialen Medien werden schnell zwei Vorwürfe erhoben: erstens, dass sie den öffentlichen Austausch unterbinden und zweitens, dass ihnen eine Paradoxie innewohnt: werde doch gerade durch den Aufruf zum Entzug wieder Aufmerksamkeit geschaffen. Anstatt jene Praktiken damit als irrational oder defizitär zu bewerten, nehmen wir sie als Formen ambivalenter Teilhabe an digitaler Öffentlichkeit in den Blick. Aus dieser Perspektive lässt sich dann analysieren, wie diese Ambivalenz von Nutzer*innen sozialer Medien selbst verhandelt wird; welche Taktiken sich herausbilden, um Ambivalenzen aufzulösen, oder wie verschiedene Öffentlichkeitsregeln und -maßstäbe gegeneinander in Position gebracht werden.