Foyer Forschung: Wir müssen über Klassismus reden!
In der Veranstaltung "Wir müssen über Klassismus reden" des FGZ Konstanz in Kooperation mit dem Theater Konstanz in der Reihe "Foyer Forschung" diskutieren Francis Seeck, Ursel Wolfgramm und Hannah Stollmayer über gesellschaftlichen Zusammenhalt und eine unterschätzte Diskriminierungsform.
Podiumsdiskussion mit
Francis Seeck, Sozialwissenschaftler*in und Antidiskriminierungsforscher*in,
Ursel Wolfgramm, Vorstandsvorsitzende im paritätischen Wohlfahrtsverband Baden-Württemberg e.V.
Hannah Stollmayer, Dramaturgin am Theater Konstanz
Moderation: Dr. Kathrin Leipold, FGZ Konstanz
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Was ist Klassismus?
Das ist eine der großen Fragen, denen sich Francis Seeck in der kürzlich erschienenen Streitschrift „Zugang verwehrt“ (Atrium Verlag 2022) widmet. Im Buch sowie zu Beginn des Podiums wird erklärt: Unter „Klassismus“ versteht man die Diskriminierung eines Menschen aufgrund der Klassenherkunft bzw. Klassenzugehörigkeit. Das hat Konsequenzen nicht nur auf der Individualebene, sondern wirkt sich auch auf die Gesamtbevölkerung aus: „Klassismus stellt eine ernstzunehmende Gefahr für den Zusammenhalt der Gesellschaft dar“. Kein Wunder also, dass Francis Seecks Erkenntnisse insbesondere für das Forschungszentrum Gesellschaftlicher Zusammenhalt von großer Bedeutung sind.
Das Problem des Klassismus ist weder neu, noch ist der Begriff ein zeitgenössischer Neologismus: Schon in der NS-Zeit wurden Erwerbslose in Deutschland stigmatisiert und benachteiligt. Die Bezeichnung „Klassismus“ leitet sich vom englischen „classism“ ab und fand in den 1970er Jahren in den USA erstmals systematische Verwendung. Dennoch sieht sich Francis Seeck immer wieder Kritik aus unterschiedlichen politischen Richtungen ausgesetzt: „Klassismus“ ist mittlerweile sowohl ein umkämpfter Begriff als auch ein Kampfbegriff. Dabei beschreibt er zunächst einfach eine soziale Realität, die auf der nach wie vor geringen sozialen Mobilität innerhalb unserer Gesellschaft gründet.
Wie manifestiert sich Klassismus und wo gibt es klassistische Zugangsbeschränkungen?
Als Beispiel für in unseren Köpfen verankerte klassistische Stigmata führt Seeck das umgangssprachliche „Hartz-IV-Bashing“ an, dass einem in der zwischenmenschlichen Kommunikation ebenso wie in unterschiedlicher medialer Aufarbeitung beispielsweise in TV-Sendungen immer wieder begegnet. Eine Sphäre, in denen klassistische Benachteiligungen häufig auftreten, stellt der Kulturbetrieb dar: so verhindert im Theater die Auswahl eines bestimmten Programms, das teilweise Vorwissen voraussetzt, das Gelten implizierter Codes wie das Tragen „schicker“ Kleidung sowie preisliche Zugangsbarrieren, dass das Angebot von bestimmten Bevölkerungsgruppen als attraktiv wahrgenommen wird. In der Streitschrift „Zugang verwehrt“, aus der Francis Seeck während der Veranstaltung mehrfach liest, wird dies an einem konkreten Beispiel sehr anschaulich geschildert.
Welche Rolle spielt Klassismus für den sozialen Zusammenhalt?
Aktuell werden in Deutschland 30-40% des existierenden Gesamtvermögens vererbt. Das sowie weitere Faktoren tragen dazu bei, dass die vielbemühte „Schere zwischen Arm und Reich“ nachweislich immer weiter auseinanderklafft. Insbesondere auch die Corona-Pandemie spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle, da sie bestehende Ungleich- und Ungerechtigkeiten zusätzlich verschärft, wie Ursel Wolfgramm betont. Sie spricht außerdem davon, dass einerseits die Qualität der Lehre mit fortschreitendem Bildungsweg besser wird. Andererseits nehmen die Kosten vom Kindergarten bis zum Studium mit fortschreitendem Bildungsgrad eher ab, wodurch finanzielle Barrieren viel zu früh auftreten. Die aus diesen Dynamiken resultierende erschwerte soziale Mobilität und Festigung bestimmter Schichten oder Klassen, die keine gemeinsame Sprache mehr finden, birgt jede Menge sozialen und politischen Sprengstoff.
Was können wir tun?
Das ist die vielleicht wichtigste Frage des Abends, da sie unser aller konkretes Handeln betrifft – und auf die Antworten zwar nicht allzu schwer zu finden, dafür aber oft nicht leicht umzusetzen sind.
Francis Seeck hebt hervor, wie wichtig es ist, sich mit Zahlen und Fakten zu beschäftigen: diese sprechen für sich. Sie und die anderen Diskutierenden fordern außerdem einstimmig, mit dem Mythos der Leistungsgesellschaft aufzuräumen. Sich der Illusion hinzugeben, dass man, wenn man sich nur genug anstrengt, alles erreichen kann, führt zu Stigmatisierung erwerbsloser oder materiell armer Menschen, denen man die Schuld an ihrer Situation selbst zuschreibt. Fakt ist jedoch, dass in unserer Gesellschaft Leistung nur unter ganz bestimmten, privilegierten Voraussetzungen zum Erfolg führen kann. Diese Bewusstseinsbildung über das Vorhandensein und den Einfluss von Klassismus ist ein notwendiger erster Schritt auf dem Weg hin zu einer gerechteren Gesellschaft.
Des Weiteren und darauf aufbauend ist es wichtig, von Klassismus betroffenen Menschen eine Stimme zu geben, wo sie nicht selbst das Wort ergreifen können. Ursel Wolfgramm führt als Beispiel eine politische Pressekonferenz an, zu welcher zehn von klassistischer Diskriminierung betroffene Menschen eingeladen wurden und welche von allen Seiten positiv rezipiert wurde.
Auch am Theater, Fachgebiet der Dramaturgin Hannah Stollmayer, gibt es verschiedene Ansätze, Veranstaltungen für ein diverseres Publikum zu öffnen. So birgt beispielsweise das Angebot von Theaterstücken für Kinder das Potenzial, dass dich deren Eltern – oft bunter durchmischt als das durchschnittliche erwachsene Theaterpublikum – erstmalig für eine ihnen manchmal wenig bekannte Aktivität zu begeistern. Grundsätzlich sind nicht nur auf der Ebene der Zuschauenden, sondern auch auf der der Mitarbeitenden im Hinblick auf klassistische Diskriminierung im Kultursektor Erfolge zu erzielen, indem man – ganz einfach – Praktika bezahlt, so Hannah Stollmayer. Sie selbst, so die Dramaturgin, legt außerdem Wert darauf, so ins Theater zu gehen, wie sie sich auch in ihrer Freizeit kleidet. Damit will sie mit dem Vorurteil aufräumen, dass es einer teuren Garderobe bedarf, um ein bestimmtes kulturelles Angebot wahrzunehmen.
Von großer Bedeutung sind zusätzlich Foren und Interessensverbände von und für von Klassismus betroffenen Menschen, so Francis Seeck. Ein Beispiel ist die Organisation Arbeiterkind sowie Klassismusreferate, wie es sie mittlerweile an einigen Hochschulen gibt.
Grundsätzlich sollte man, wenn es um Klassismus geht, auch immer die Sprache mitdenken. Und dabei geht es nicht zwangsläufig um das Klischee, dass Menschen, die sich weiter unten in der Klassenhierarchie aufhalten, über ein weniger großes Vokabular verfügen. Vielmehr sollte im Fokus stehen, diskriminierungsfreie Sprachräume zu schaffen, in denen alle zu Wort kommen, und damit die Sprechfähigkeit derer, die von Klassismus betroffen sind, zu erhöhen.
Hier ist es, wo wir alle ansetzen können, welche Geschichte, Position oder Rolle wir in der Gesellschaft auch innehaben: In dem Bewusstsein für die Problematik offen und sensibel sein, inklusive und womöglich institutionelle Sprachräume schaffen, in denen wir nicht nur gehört werden, sondern vor allem zuhören. Und, ganz wichtig: über Klassismus reden.
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Von Eva Günther