stilisiertes Porträt von Donald Trump vor Strahlenkranz

Die Frage nach den „kulturellen Grundlagen von Integration“ muss neu und radikaler gestellt werden

Kommentar zur Wahl von Donald Trump. Von Albrecht Koschorke

Man hat ihn unterschätzt, wir haben ihn unterschätzt: die Demoskopen, die Funktions- und Meinungseliten, die Liberalen, die Europäer, die Künstler und Intellektuellen, die Akademiker. Ihn und die Kräfte, die ihn zur Macht getragen haben. Wir haben den gewaltigen Zorn unterschätzt, der seine Wähler veranlasst hat, mit dem politischen System als Ganzem, so wie es ihnen erscheint, und seinen Rationalitäten zu brechen.

Wir haben nicht begriffen, welche identifikatorische Kraft für eine Kernklientel, mit der wir praktisch keinen gesellschaftlichen Kontakt haben – typenhaft vereinfacht: ältere weiße männliche Landbewohner mit unterdurchschnittlicher Ausbildung –, in der Aneinanderreihung von Sätzen ohne Syntax, erlittenen Niederlagen bei Fernsehdebatten, in Konspirationstheorien und wüsten Verleumdungen steckt. Offenbar bringt alles, was Trump in unseren Augen unmöglich macht – einschließlich unserer Verachtung –, seine Anhänger dazu, sich in ihm wiederzuerkennen. Für sie sind Rassismus und Sexismus an die Spitze des Landes wählbar, eine Frau nicht. Wahrscheinlich hat Trump auch noch das, was er locker room talk nannte, Stimmen zugeführt. Anders ist kaum zu erklären, dass die Amerikaner ihn in allen Umfragen aufrichtiger fanden als Hillary Clinton mit ihrem Makel politischer Professionalität.

Die politische Fassungslosigkeit zieht ein Gefühl theoretischer Ohnmacht nach sich. Wir nennen das, was derzeit die politische Landschaft überrollt, Populismus. Aber das ist erst einmal nur ein Schlagwort, noch keine Erklärung. Wir sprechen von Neoliberalismus, aber auch das ist nur eine Worthülse, vielleicht sogar eine Konspirationstheorie eigener Art. Und wie viel hat die wirtschaftliche Liberalisierung, deren desintegrative Folgen wir beklagen, mit der Liberalität des Lebensstils westlicher Großstadtbewohner zu tun, auf die sich der Hass der Menschen in heartland America und anderswo richtet?

Es wird unvermeidlich sein, die Frage nach den „kulturellen Grundlagen von Integration“ neu und radikaler zu stellen, angesichts eines Szenarios, das nun tatsächlich Züge eines Kulturkampfes trägt: nicht zwischen Religionen oder angeblichen Kulturblöcken, sondern innerhalb unserer Gesellschaften – zwischen Stadt und Land, jung und alt, Mobilen und Sesshaften, besser und gering Ausgebildeten, Angehörigen wohlhabender und verarmender Schichten.

Prof. Dr. Albrecht Koschorke lehrt Deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Er ist Vorstandsmitglied des Exzellenzclusters „Kulturelle Grundlagen von Integration“. Zuletzt veröffentlichte er „Adolf Hitlers ‚Mein Kampf‘. Zur Poetik des Nationalsozialismus“ (Berlin: Matthes & Seitz 2016) sowie „Hegel und wir“ (Berlin: Suhrkamp 2015).